Die Idee der Individualbesteuerung

Die Diskussion um die Individualbesteuerung in der Schweiz geht in die nächste Runde, nachdem der Bundesrat kürzlich einen indirekten Gegenvorschlag zur Volksinitiative zur Abschaffung der Heiratsstrafe vorgestellt hat. Unser Beitrag gibt einen Überblick über die aktuelle Rechtslage und die jüngsten Entwicklungen.

Ausgangssituation

Gemäss der aktuellen Gesetzeslage unterliegen Ehepaare der gemeinsamen Besteuerung, was bedeutet, dass die Einkommen und Vermögen beider Ehegatten zusammengerechnet werden und als Basis für die Bestimmung des Steuertarifs dienen. Hingegen werden unverheiratete Paare individuell, das heisst das Einkommen einer Person, einzeln besteuert. Aufgrund des in der Schweiz geltenden progressiven Steuertariftsystems für die Einkommenssteuer (=je höher das Einkommen, desto höher der Steuertarif), werden Ehepaare gegenüber unverheirateten Personen steuerlich benachteiligt, auch wenn diese grundsätzlich die gleiche wirtschaftliche Leistungsfähigkeit aufweisen (sog. Heiratsstrafe).

Wählt das Ehepaar im Weiteren nicht das klassische Alleinverdienermodell, sondern beide Ehepartner gehen einer Arbeitstätigkeit nach, kommt es ausserdem wiederum aufgrund des Progressionseffekts zur steuerlichen Bestrafung des tieferen(Zweit-)Einkommens. Das Einkommen des Zweitverdienenden wird durch die Zusammenrechnung der Einkommen zu einem deutlich höheren Steuertarif besteuert, als dies bei einer individuellen Besteuerung der Fall wäre. Da Zweitverdienende in den meisten Fällen Frauen sind, haben in erster Linie diese unter den aktuellen gesetzlichen Rahmenbedingungen wenig Anreize, ihre Erwerbstätigkeit zu erhöhen.

Die aktuelle Besteuerung von verheirateten Paaren führt nicht nur zu Ungleichheiten im Vergleich zu unverheirateten Paaren, sondern die Heiratsstrafe ist auch verfassungswidrig, weil die aktuelle Besteuerung von Ehepaaren faktisch die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Ehepaare unberücksichtigt lässt.

Um dieser Heiratsstrafe entgegenzuwirken, nahm das Parlament die Thematik bereits in der Herbstsession 2020 mit der Verabschiedung einer Botschaft des Bundesrates zur Einführung der Individualbesteuerung in die Legislaturplanung 2019-2023 auf. Im Herbst 2022 wurde ausserdem die eidg. Volksinitiative «Für eine zivilstandsunabhängige Individualbesteuerung (Steuergerechtigkeits-Initiative)» durch den Verein «Individualbesteuerung» beim Bund eingereicht.
Die «Steuergerechtigkeits-Initiative» des Vereins «Individualbesteuerung» hat zum Ziel, mit Hilfe eines neuen Verfassungsartikels sicherzustellen, dass natürliche Personen unabhängig von ihrem Zivilstand besteuert werden.

Im Dezember 2022 fand ein Vernehmlassungsverfahren zum Bundesgesetz über die Individualbesteuerung statt. Gestützt auf die Vernehmlassung und die Vernehmlassungsvorlage verabschiedete der Bundesrat am 21. Februar 2024 einen indirekten Gegenvorschlag (Bundesgesetz über die Individualbesteuerung) zur eingereichten Initiative zur Individualbesteuerung. Nachfolgend werden die wichtigsten Eckpunkte des indirekten Gegenvorschlages vorgestellt.

Der indirekte Gegenvorschlag des Bundesrats

Mit dem indirekten Gegenvorschlag zur eingereichten Initiative zur «Individualbesteuerung» schlägt der Bundesrat vor, dass die Thematik der Individualbesteuerung nicht auf Stufe Verfassung, sondern auf Gesetzesstufe gelöst werden soll. Der Bundesrat ist mit seinem Gegenvorschlag somit nicht grundsätzlich gegen die Einführung der Individualbesteuerung, sondern möchte das Ziel mittels einer direkten Gesetzesvorlage umsetzen. Damit kann das Ziel der Individualbesteuerung schneller erreicht werden als über den «Umweg» eines Verfassungsauftrages. Mit dem indirekten Gegenvorschlag wird gleichzeitig der Auftrag des Parlamentes (Einführung der Individualbesteuerung in der Legislaturplanung 2019-2023, s. oben) erfüllt.

Mit dem indirekten Gegenvorschlag spricht sich der Bundesrat für eine zivilstandsunabhängige Besteuerung (reine Individualbesteuerung) auf allen drei Staatsebenen und für zwei getrennte Steuererklärungen aus. Dadurch würde die Heiratsstrafe entfallen. Zusätzlich ergeben sich weitere Eckpunkte für die direkte Bundessteuer:

Zunächst werden die Einkünfte und Vermögenswerte nach Zivilrecht aufgeteilt. Ausserdem wird gemäss Vorschlag des Bundesrates der Kinderabzug beider direkten Bundessteuer auf 12 000 CHF (bisher 6700 CHF) erhöht und zur Hälfte zwischen den Eltern aufgeteilt. Weiter wird der Tarif der direkten Bundessteuer angepasst: Die Steuersätze für tiefe und mittlere Einkommen werden abgesenkt, der Grundfreibetrag wird erhöht und der Betrag, bei dem der Maximalsatz von 11,5 % erreicht wird, gesenkt.

Auswirkungen des Vorschlags

Die grössten Entlastungen entstehen gemäss Bundesrat für Ehepaare mit etwa gleichen Einkommensverhältnissen. Die Tarifanpassung würde primär entlastend für unverheiratete Paare ohne Kinder wirken. Der aktuell geltende privilegierte Tarif für alleinerziehende Personen würde zwar entfallen, hingegen werde dieser «Verlust» ebenfalls durch den erhöhten Kinderabzug und Tarifanpassung kompensiert. Einzig für Ehepaare mit nur einem Einkommen oder einem niedrigen Zweiteinkommen sowie für unverheiratete Paare mit Kindern in der oberen Einkommensklasse würde die Einführung der Individualbesteuerung zu einer Mehrbelastung führen. In einer Gesamtbetrachtung führe jedoch gerade im Hinblick auf die unteren und mittleren Einkommensklasse die Tarifanpassung zu einer grossen Entlastung.

Die Kantone sind bei der Ausgestaltung der Individualbesteuerung gemäss Vorschlag des Bundesrates frei, wobei die Umsetzung innerhalb von 10 Jahren erfolgen muss.

Ausblick

Das Parlament hat bis zum 8. März 2025 Zeit, eine Empfehlung zur Volksinitiative «Individualbesteuerung» abzugeben. Während der Vernehmlassung zum Bundesgesetz zur Individualbesteuerung äusserten sich bereits viele Kantonen kritisch. Insbesondere betonten sie, dass bereits auf kantonaler und kommunaler Ebene zahlreiche geeignete Massnahmen zur Besteuerung von Ehepaaren implementiert wurden, wie etwa das sog. «Splitten» oder «Teilsplitten» von Einkommen. Aus diesem Grund erachten die Kantone die Einführung einer reinen Individualbesteuerung als überflüssig.

Es bleibt nun abzuwarten, wie das Parlament diese Bedenken in seine Entscheidung einfliessen lässt und welchen Standpunkt es letztlich zur Volksinitiative und zum indirekten Gegenvorschlag des Bundesrates einnehmen wird. Es ist möglich, dass der indirekte Gegenvorschlag lediglich den Anfang einer weiteren, ausführlichen Diskussion zur Einführung der Individualbesteuerung in der Schweiz darstellt.