Die längst überfällige Abschaffung der Heiratsstrafe
«Die (längst überfällige) Abschaffung der Heiratsstrafe»- seit der Volksabstimmung vom 28. Februar 2016 ist dieser Ausdruck allseits bekannt. Dessen Popularität hat seit der verlorenen Abstimmung keinen Einbruch erlitten und ist insbesondere seit dem 10. April 2019 wieder in aller Munde.
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Grund dafür ist die erstmalige Gutheissung einer Abstimmungsbeschwerde durch das Bundesgericht. In diesem Artikel gehen wir einerseits der Frage nach, ob der Name «Heiratsstrafe» überhaupt berechtigt ist (Heirat sollte eigentlich keine Strafe sein) und was genau das Ziel der Initiative aus dem Jahre 2016 war bzw. ist.
Seit mehr als 30 Jahren ein Thema
Bereits im Jahre 1984 attestierte die höchste Gerichtsinstanz dieses Landes, dass es bei der Besteuerung von Ehepaaren eine Ungleichheit gegenüber nicht verheirateten Personen gibt und bezeichnete diese Ungleichheit als «Heiratsstrafe». Zur Aufhebung einer bundesgesetzlichen Regelung haben die Lausanner Richter/-innen aufgrund von Art. 190 der Bundesverfassung aber keine Kompetenz und so blieb der vom Bundesgericht kritisierte Zustand bis heute in Kraft. Nach nun mehr als 30 Jahren wagte die Christliche Volkspartei der Schweiz (CVP) eine parlamentarische Initiative für die Abschaffung dieser Heiratsstrafe zu lancieren. Aber was ist genau mit diesem Ausdruck «Heiratsstrafe» gemeint?
Der Begriff «Heiratsstrafe» wurde von der Politik etabliert, um auf eine Benachteiligung von Ehepaaren und eingetragenen Partnern/Partnerinnen gegenüber Konkubinatspartnerschaften aufmerksam zu machen. Eine Heiratsstrafe im engeren Sinn gibt es jedoch nicht. Nur weil eine Ehe geschlossen wird, resultiert nicht eine direkte Bestrafung oder Benachteiligung der Eheleute. Der Ausdruck meint vor allem zweierlei. Einerseits wird beanstandet, dass die Renten der AHV bei Ehepaaren zusammen lediglich 150 % betragen dürfen (Plafonierung) und damit weniger Rentenguthaben für ein Ehepaar, im Gegensatz zu einem nicht verheirateten Paar resultiert.
Andererseits findet im Bereich der Steuern eine rechtsungleiche Zusammenrechnung der Einkommen statt. Gestützt auf Art. 9 des Bundesgesetzes über die direkte Bundessteuer (DBG) wirkt sich diese Zusammenrechnung im Rahmen der Steuerveranlagung negativ (erhöhend) auf die Progression und damit auf den resultierenden prozentual höheren Steuerbetrag (als vor der Heirat) aus. Betroffen sind dabei vorwiegend die doppelverdienenden Ehegatten mit einer erhöhten Steuerbelastung. Der aus diesem Grund im Jahre 2008 eingeführte Doppelverdienerabzug für Ehepaare reduziert die Ungleichbehandlung zwar, lässt sie jedoch nicht gänzlich verschwinden.
Die CVP ergreift die Initiative
Am 5. November 2012 wurde von der CVP die oben benannte Initiative «Für Ehe und Familie – gegen die Heiratsstrafe» bei der Bundeskanzlei eingereicht. Kernpunkt der Initiative war die Besteuerung der Ehe-gatten als Wirtschaftsgemeinschaft. Daneben sollten die Ehepaare auch bei der Festsetzung ihrer AHV Renten den Konkubinatspaaren gleichgestellt werden (und damit in Genuss von jeweils zwei vollen Einzelrenten gelangen). Ihrem Parteinamen gerecht wurde die CVP mit einer dritten und letzten Forderung der Initiative: Die Festsetzung der Ehe als «auf Dauer angelegte Lebensgemeinschaft zwischen Mann und Frau» in der Bundesverfassung. Eine solche Normierung der Ehe als Lebensgemeinschaft zwischen Mann und Frau entspricht zwar zurzeit der allgemein gelebten Praxis in der Schweiz, entfernt uns zeitgleich aber mehr von der Öffnung der Ehe für homosexuelle Paare.
Im Rahmen der bundesrätlichen Empfehlungen des Abstimmungsbüchleins sowie der Medienmitteilungen statuierten der Bundesrat sowie das Parlament die Ablehnung der Vorlage mit folgenden Argumenten: (1) seien bereits genug Massnahmen zur Milderung der steuerlichen Ungleichbehandlung mit verschiedensten Abzugsmöglichkeiten getroffen worden; (2) seien lediglich 80‘000 Doppelverdienerehepaare mit einem höheren Einkommen (ab 80‘000 CHF Einkommen ohne Kinder sowie ab 120‘000 CHF mit Kindern) von der Ungleichbehandlung betroffen; (3) würden im Rahmen der Rentenbeschränkung auf 150 % für Ehepaare (Plafonierung) die Ehepaare, über die ganze Lebensdauer betrachtet, dennoch von verschiedensten Vorteilen profitieren wie beispielsweise von Witwen- und Witwerrenten, dem Verwitwetenzuschlag bei der AHV und IV sowie Beitragserleichterungen in der Unfallversicherung, Militärversicherung und der beruflichen Vor-sorge. Würde nun den Ehepaaren eine Vollrente zugesprochen, so hätte dies ein Ungleichgewicht zulasten der Konkubinatspaare zur Folge – nicht zu vergessen die Mehrbelastung der AHV von 2 Milliarden CHF.
Gesamthaft betrachtet stimmte der Bundesrat dem steuerlichen Aspekt des Initiativtextes zu, empfand die geplanten Änderungen im Sozialversicherungsrecht aber als obsolet. Auch das Parlament identifizierte sich mit der seit 30 Jahren pendenten steuerlichen Anpassungsnotwendigkeit bei der Ehepaarbesteuerung. Hauptpunkt des Missfallens des Parlaments war aber ein anderer: Die Normierung der Ehe als Lebensgemeinschaft zwischen Mann und Frau in der Bundesverfassung war zu viel des Guten. Durch eine solche Festsetzung in der Bundesverfassung würde nach Ansicht der Parlamentarier/-innen die gegenwärtig diskutierte Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare noch weiter in die Ferne rücken. Dieses Festhalten am nicht mehr zeitgemässen Begriff lehnte man ab. Dasselbe empfand die Bundesversammlung bei der Formulierung der Ehepaarbesteuerung als wirtschaftliche Gemeinschaft: Die Individualbesteuerung als mögliche Lösung für die Ungleichbehandlung würde damit vom Tisch gefegt.
Schliesslich folgte am 28. Februar 2016 der Stichtag. Mit 50.8 % der Stimmen wurde die Vorlage vom Volk abgelehnt, von den Ständen hingegen befürwortet. In der anschliessenden Medienkonferenz des Bundesrates erklärte dieser Folgendes: Die Pflicht des Bundes, die vom Bundesgericht vor 30 Jahren erklärte rechtsungleiche Besteuerung von Ehepaaren gegenüber Konkubinatspaaren aufzuheben, sei nach wie vor ein zu lösendes Traktandum.
Ein schwerwiegender Berechnungsfehler
Gestützt auf die nach der Abstimmung erfolgte Medienkonferenz beschloss der Bundesrat im Frühjahr 2018 mit der Botschaft vom 21. März 2018 die Änderung der Ehepaarbesteuerung und damit die (teilweise) Abschaffung der sogenannten «Heiratsstrafe». Jährliche Mindereinnahmen von 1.15 Milliarden CHF wären die Konsequenz der Abschaffung. Die viel diskutierte Individualbesteuerung wurde aufgrund Abgrenzungsschwierigkeiten nicht in die Botschaft aufgenommen, wohl aber eine doppelte Berechnungsmethode. Darin wird in einem ersten Schritt wie bisher vorgegangen, indem die Einkommen der Ehegatten addiert werden. In einem zweiten Schritt berechnet man dieselben Verhältnisse in gleicher Weise wie bei Konkubinats-paaren. Die günstigere Variante wird den Ehegatten als Veranlagung in Rechnung gestellt.
Dieser gut schweizerische Gesetzgebungsprozess wurde am 15. Juni 2018 aber plötzlich durch eine Hiobsbotschaft des Bundesrates erschüttert. Der Bundesrat teilte dem Abstimmungsvolk mit, dass sich im Rahmen der bundesrätlichen Information im Abstimmungsbüchlein vom 28. Februar 2016 ein Fehler eingeschlichen hat. Nicht nur 80‘000 Doppelverdienerehepaare (wie im Abstimmungsbüchlein erwähnt), sondern 454‘000 Ehepaare sind von der zurzeit geltenden rechtsungleichen Besteuerung betroffen. In den Berechnungen des Abstimmungsbüchleins wurden Zweiverdienerehepaare mit Kindern vergessen. Die eidgenössische Steuerverwaltung im Auftrag des Bundesrats hat sich gravierend verrechnet. Bundesrat Ueli Maurer leitete daraufhin eine externe Untersuchung ein. Der Gesetzgebungsprozess für die Abschaffung wurde vorübergehend sistiert.
Das Resultat dieser externen Untersuchung benennt einen Berechnungsfehler als Ursache und zeigt ein fragwürdiges, ja ernüchterndes Bild. Die Verrechnung der Eidgenössischen Steuerverwaltung ist kein Einzelfall – die Behörde erhält generell zu wenig Daten. Gemäss dem Gutachter ist die Eidgenössische Steuerverwaltung mit den heute zur Verfügung stehenden Daten nicht vollständig in der Lage, den politischen Auftrag zu erfüllen.
Gestützt auf diese Erkenntnisse sowie die Tatsache, dass der Urnengang äusserst knapp zu Ungunsten der Initianten ausfiel, erhob die CVP noch im Juni 2018 eine Abstimmungsbeschwerde an das Bundesgericht. Dies ist nicht das erste Mal, dass die Richter/-innen in Lausanne als juristische Instanz politische Anliegen beurteilen müssen. Bereits bei der Abstimmung über die USR II hatte es über die Konsequenzen von falschen Prognosen bei Steuerausfällen zu befinden. Vorhersagen – nach Natur der Sache bereits mit Unsicherheiten behaftet – führten bis anhin hauptsächlich zur Verneinung der Abstimmungswiederholung im Verdikt des höchsten schweizerischen Gerichts.
Die Messlatte für die Gutheissung einer Wiederholung des Urnenganges ist äusserst hoch. Ungültigkeits-Erklärungen setzen voraus, dass die entdeckten Mängel erheblicher Natur sind sowie sich tatsächlich auf die Abstimmungsergebnisse ausgewirkt haben könnten. Ausser Acht gelassen werden darf auch die Rechtssicherheit nicht. Gerade im Fall der Abstimmungsbeschwerde von der USR II wurde aus Rechtssicherheitsgründen auf eine Wiederholung verzichtet, zumal aufgrund des Ja-Entscheids Wirtschaftsakteure bereits diverse Dispositionen getroffen hatten, die im Nachhinein nur noch mit unverhältnismässigem Aufwand hätten rückgängig gemacht werden können. Dass der heutige Fall anders liegt ist offensichtlich: Einerseits wurde die Vorlage an der Urne abgelehnt – die Rechtslage ist nach wie vor unverändert. Andererseits ging es damals bei der USR II um Prognosen, bei der «Heiratsstrafe» aber um wesentliche, effektive (Zahlen)-Informationen.
Das bahnbrechende Urteil - die Story geht weiter
7.5 Jahre nach der Abstimmung der Paukenschlag. Die Lausanner Richter/-innen erklärten mit 4 zu 1 Stimmen die Abstimmung über die Heiratsstrafe für ungültig. Das Urteil vom 10. April 2019 bringt einen Präzedenzfall in der Abstimmungsgeschichte der Schweiz. Die Abstimmungsfreiheit im Sinne von Art. 34 Abs. 2 BV inklusive dem Transparenzgebot der Stimmberechtigten sei verletzt worden, so die höchste Instanz der Schweiz. Die 4 zustimmenden Richter schlossen daraus, dass die Verletzungen geeignet waren, das doch sehr knappe Abstimmungsresultat zu beeinflussen. Die Schwere der Unregelmässigkeit aufgrund der frappierenden Differenz zwischen den Zahlen ist dabei ein wichtiger Faktor.
Die Story geht weiter - nur wie?
Was sind die Folgen dieses Entscheides aus Lausanne? Das Bundesgericht hat die Ungültigkeit der Abstimmung festgestellt und diese aufgehoben. Der Bundesrat war sodann gefordert zu entscheiden, was mit der Initiative bzw. Abstimmung weiter geschieht. Dem Grundsatze nach bestehen in diesem Fall zwei Optionen: Einerseits kann der Bundesrat die Abstimmungsvorlage abermals in die parlamentarischen Beratungen geben oder aber sogleich eine neue Abstimmung mit demselben Initiativtext ansetzen. Grundsätzlich haben beide Varianten die reelle Chance, dass die «Heiratsstrafe» endgültig abgeschafft wird. Bei ersterer Option bestünde aber zusätzlich die Möglichkeit, den heiss diskutierten und umstrittenen Absatz im Intitiativtext, welcher die Ehe als Lebensgemeinschaft zwischen Frau und Mann festschreibt, endgültig zu streichen, was bei einer neuen Abstimmung der Vorlage unter Umständen bessere Erfolgschancen verspricht und mit dem Wegfall eines alten gesellschaftlichen Zopfes nicht eine neue gesellschaftliche «Spaltung» mit der engen Umschreibung des Ehebegriffes in der Verfassung festschreibt. Kurz nach Publikation des Bundesgerichtsurteils war der Bundesrat geneigt, letzterer Variante den Vorzug zu erteilen und direkt das Volk mit dem Vorhaben zu konfrontieren. Dies war der CVP aber nicht recht, sind sich die Initianten denn auch über die Probleme der umstrittenen Ehedefinition bewusst. Lobbying sei Dank reüssierte die Christliche Volkspartei Ende Juni als der Bundesrat seine Entscheidung mitteilte, die Initiative erneut zu Beratungen ins Parlament zu schicken. Dazu erliess der Bundesrat im August 2019 vor der Herbstsession 2019 eine Zusatzbotschaft zuhanden des Parlaments. Grund für diese Entscheidung der Exekutive ist die heutige Hängigkeit einer anderen Vorlage zur Abschaffung der Heiratsstrafe im Parlament. Diese hängige Vorlage könnte, nach Willen des Parlaments, allenfalls zu einem indirekten Gegenvorschlag zur CVP-Initiative ausgearbeitet werden.
Siehe auch den Artikel der Aargauerzeitung vom 22. Juni 2019
Die entscheidende Herbstsession 2019
Zumindest der Ständerat erteilte dem Bundesrat in seiner ersten Beratung der Thematik in der Herbstsession 2019 einen ersten Dämpfer und entschied mit 25 zu 18 Stimmen die Rückweisung zwecks Vorlage neuer Vorschläge. Es bleibt abzuwarten, wie die Haltung des Nationalrats dazu ausfällt und das letzte Verdikt des Ständerats. Spätestens am 27. September 2020 wird sich das Volk aber mit der erneuten Abstimmung konfrontiert sehen - und zwar unabhängig von der genauen Ausgestaltung des Inhalts.
Fazit
Es liegt auf der Hand, dass in der Angelegenheit der «Heiratsstrafe» das letzte Wort noch nicht gesprochen ist. Eine Veränderung in der steuerlichen Behandlung von Ehepaaren gegenüber Konkubinatspaaren wird in Zukunft kommen. Sei es mit einer erneuten Abstimmung und deren Gutheissung oder mittels eigenständiger Gesetzesänderung durch das Parlament. Zu hoffen bleibt bei allen Szenarien aber auf eine ausgewogene und für Ehepaare als auch für Konkubinatspaare faire Lösung. So oder so steht aber fest – eine Volksabstimmung lässt sich nie eins zu eins wiederholen. Mit Blick auf die gutgeheissene Beschwerde gilt es abzuwarten, wie das Parlament über die Vorlage weiter beraten wird und ob gegebenenfalls ein Gegenvorschlag an die Urne gesendet wird. Entscheidet sich das Parlament dennoch für eine identische Abstimmung über die Vorlage, so wäre das Volk wiederum mit der dreischichtigen Initiative (Steuern, Sozialversicherungen und Ehebegriff) konfrontiert. Es würde sich dabei zeigen, ob das Volk die Vorlage 2016 mit Blick auf die steuerlichen Gesichtspunkte verworfen hat oder doch primär, wie das Parlament, aufgrund der umstrittenen und engen Ehedefinition, welche mit einem fragwürdigen Eheausschluss gleichgeschlechtlicher Paare gleichzusetzen ist.
Der Entscheid des Bundesgerichts vom 10. April 2019 ist hingegen zu begrüssen und ist aus juristischer Perspektive richtig. Es hat in einer heiklen Angelegenheit der ungehinderten demokratischen Willensbildung den Vorrang gegenüber der durch die Gewaltenteilung begründeten üblichen Zurückhaltung gegeben.